In deinem Inneren ist eine Quelle, die nie versiegt, wenn du nur zu graben verstehst.

(Mark Aurel)

Bindung

Im folgenden Text werden Auszüge aus: Brisch, KH (2008) Bindung und Umgang. In: Deutscher Familiengerichtstag (Hrsg.) 'Siebzehnter Deutscher Familiengerichtstag vom 12. bis 15. September 2007 in Brühl'. (Brühler Schriften zum Familienrecht, Band 15). Verlag Gieseking Bielefeld, S. 89-135

zusammengefasst dargestellt:

Aus der Säuglingsforschung wissen wir, dass es für das Überleben eines Menschen absolut grundlegende Bedürfnisse gibt. Hierzu gehören physiologischen Bedürfnissen wie Nahrung, Wärme, Schlaf, das Bedürfnis, die Umwelt zu erforschen, das Bedürfnis nach Stimulation aller Wahrnehmungsbereiche , das Bedürfnis nach Selbsteffektivität (Aktivitäten selbst erfolgreich zu tun und abzuschließen), die Abwehr von negativen Reizen, wie etwa die Vermeidung von Schmerzen. Zu diesen Überlebenssystemen gehört darüber hinaus auch die Befriedigung der Bedürfnisse nach „emotionaler Bindung“. „Die „emotionale Bindung“ eines Menschen an eine Bindungsperson ist dadurch gekennzeichnet, dass sie ein zwar unsichtbares, aber fühlbares emotionales Band ist, das eine Person zu einer anderen Person anknüpft und das diese zwei Menschen über Raum und Zeit sehr spezifisch miteinander verbindet. Diese Bindung ist für das Überleben eines Menschen so grundlegend wie etwa die Luft zum Atmen, Ernährung, Schlaf. Die emotionale Entwicklung sichert geradezu das Überleben des Säuglings und letztlich eines jeden Menschen, denn positive emotionale Versorgung kann man nicht mit der Ernährung aufnehmen“ (a.a.O. S.89). Wenn ein Säugling oder ein Kind oder auch ein Erwachsener nicht ausreichend emotional durch zwischenmenschliche sehr spezifische Interaktionen versorgt wird, wie dies z. B. bei emotionaler Vernachlässigung geschieht, so kann dieses psychische und körperliche Auswirkungen haben. So kann es sein, dass emotional vernachlässigte Kinder keine ausreichenden Wachstumshormone bilden. Dies betrifft sowohl die Wachstumshormone, die für das Körperwachstum zuständig sind, als auch die neuronalen Wachstumshormone, die für die Verschaltungen zwischen den Nervenzellen und den Aufbau von funktionierenden Netzwerken im Gehirn erforderlich sind. „Deswegen sind Kinder, die unter deprivatorischen Bedingungen in Familien, Ersatzfamilien oder Heimen aufwachsen,
von ihrer Körperstatur häufiger kleinwüchsig und ihr Kopfumfang ist ebenfalls kleiner, weil das Gehirnwachstum nicht voranschreitet (Johnson & Internationales Adoptionsprojekt-Team (IAP), 2006). Wir sprechen dann auch vom „psychogenen Minderwuchs“ ( a.a.O. S. 90). Zusätzlich können diese Kinder schwere Verhaltensstörungen entwickeln. Ihre körperliche, motorische, soziale und emotionale Entwicklung stagniert oder entwickelt sich sogar zurück. Im schlimmsten Fall können sie an dem sogenannten Marasmus sterben, wie ihn Spitz erstmals in seinen Pioneer-Studien über den „Hospitalismus“ beschrieben hat (Spitz, 1945b; Spitz, 1946).
Demgegenüber ist aus vielen Studien bekannt,n dass eine sichere Bindung ein Schutzfaktor in der kindlichen Entwicklung ist. (Werner, 2000; Werner & Smith, 2001; Grossmann, 2003). Sicher gebundene Kinder „reagieren mit einer größeren psychischen Widerstandskraft („resilience“) auf emotionale Belastungen, wie etwa eine Scheidung der Eltern. Diese Kinder haben mehr Bewältigungsmöglichkeiten, sie holen sich eher Hilfe, zeigen mehr gemeinschaftliches Verhalten, leben häufiger in befriedigenden Beziehungen und haben mehr Freunde, sie sind kreativer, flexibler und ausdauernder bei der Lösung von Problemen. Ihre Gedächtnisleistungen und ihre Lernfähigkeiten sind größer, und ihre Sprachentwicklung ist besser (Dieter et al., 2005). Der größte Vorteil für zwischenmenschliche Beziehungen aber ist ihre ausgereiftere Empathiefähigkeit, denn sie können sich in das Verhalten, Denken und Fühlen von anderen Menschen besser hineinversetzen“ (a.a.O. S.95) .
Kinder, die unsicher gebunden sind, können Belastungssituationen schlechter bewältigen, in Konfliktsituationen weniger kompetent handeln und zeigen schon im Kindergarten weniger prosoziale Verhaltensweisen. Sie ziehen sich bei Belastungen eher zurück und versuchen, Probleme alleine zu lösen. Als Jugendliche sind sie eher isoliert, haben weniger Freundschaften und schätzen Beziehungen insgesamt weniger bedeutungsvoll für ihr Leben ein.
In internationalen Studien konnte nachgewiesen werden, dass mit einer 75 % Übereinstimmung sicher gebundene Mütter häufiger auch sicher gebundene Kinder haben, beziehungsweise Mütter mit einer unsicheren Bindungshaltung auch häufiger Kinder, die mit einem Jahr unsicher gebunden sind. Ähnliche Zusammenhänge (65 % Übereinstimmung) fanden sich für die Beziehung zwischen der Bindungshaltung der Väter und der Bindungsqualität ihrer Kinder (van IJzendoorn & Sagi, 1999). „Diese Studien weisen auf eine Weitergabe von Bindungsstilen und -mustern zwischen Generationen hin. Die eigene Bindungshaltung der Mutter (bzw. des Vaters) beeinflusst ihr Verhalten gegenüber ihrem Säugling. Es konnte nachgewiesen werden, dass sicher gebundene Mütter sich auch in der Pflegeinteraktion mit ihren Kindern feinfühliger verhielten als dies unsicher gebundene Mütter taten. Die Mutter-Kind-Interaktion scheint einer der wichtigen Prädiktoren zu sein, aus dem heraus sich in Teilbereichen die Ausbildung der Bindungsqualität des Säuglings im ersten Lebensjahr erklären lässt“ (a.a.O. S.96)

Mary Ainsworth (Ainsworth, 1977) fand in ihren Studien heraus, dass feinfühliges Pflegeverhalten von großer Bedeutung für die Entwicklung einer sicheren Bindung ist. „Sie fand heraus, dass Säuglinge sich an diejenige Pflegeperson binden, die ihre Bedürfnisse in einer feinfühligen Weise beantworten. Dies bedeutet, dass die Pflegeperson die Signale des Säuglings richtig wahrnimmt und sie ohne Verzerrungen durch eigene Bedürfnisse und Wünsche auch richtig interpretiert. Weiterhin muss die Pflegeperson die Bedürfnisse angemessen und prompt – entsprechend dem jeweiligen Alter des Säuglings – beantworten. Je älter der Säugling wird, umso länger können auch die Zeiten sein, die ihm bis zur Bedürfnisbefriedigung zugemutet werden.“ (a.a.O. S.92)
Aus neueren Studien weiß man zudem, dass die Art und Weise, wie Eltern mit ihren Kindern reden, von Bedeutung für den Bindungsaufbau ist. Wenn es Eltern gelingt, die Gefühle ihrer Kinder zu erfassen und diese für die Kinder in Worte zu bringen („Jetzt bist du traurig“ „Da freust du dich aber“) fühlen die Kinder sich verstanden und angenommen.
„In diesem Zusammenhang weisen die Forschungsergebnisse von Fonagy et al. (1991; Steele et al., 1991) darauf hin, dass eine sichere Bindungsentwicklung auch die Fähigkeit des Säuglings zu einer selbstreflexiven mentalen Funktion fördert. Diese Fähigkeit ermöglicht dem Kind in zunehmendem Ausmaß, über sich, andere und die Welt in einer empathischen Weise nachzudenken und nachzuspüren. Darin könnte nach Fonagy ein wesentlicher Vorteil einer sicheren Bindung liegen“ (a.a.O. S.92).

Die frühe Kindheit und der späte Schmerz

„Was haben Herz-Kreislaufleiden, Krebs, Rheuma, Morbus Crohn, Asthma oder Fibromyalgie mit der frühen Kindheit zu tun?“ fragt Psychologie heute im Heft Mai 2014. „Sehr viel!“ ist die Antwort, denn belastende Erfahrungen in den ersten Lebensjahren können im Erwachsenenalter zu chronischen Erkrankungen führen. Belastende Bindungserfahrungen können bewirken, dass ein Kind ständig unter Stresshormonen steht. Da diese Einfluss auf unser Immunsystem haben, kann dauerhaften Stress im frühen Alter zeitlebens zu erhöhter Virusanfälligkeit und erhöhter Schmerzempfindung führen. Zudem steigt die Gefahr, dass immer wieder im Körper entstehende Tumorzellen nicht ausgemerzt werden. Einige Ärzte fordern daher, schwere körperliche Erkrankungen auch psychologisch zu behandeln. Zudem wirken sich negative Bindungserfahrungen auf das Beziehungsverhalten im Erwachsenenalter aus. So beschreibt eine Frau: „ In neuen Beziehungen bin ich aus Unsicherheit und Angst vor Zurückweisungen sehr schnell freundlich…. Ziehe mich aber genauso schnell wieder zurück, wenn nicht direkt eine Bestätigung kommt. Bevor ein anderer mich ablehnt, tue ich es lieber selbst., da ist der Schmerz noch etwas berechenbarer“. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Das erwachsenen Bindungsverhalten spiegelt häufig die kindlichen Bindungserfahrungen. Und: Je größer ein kindliches Trauma, umso größer ist das Erkrankungsrisiko im späteren Leben. (vgl. Psychologie heute. Mai 2014. S. 26ff)